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Hochsensibilität, Hysterie oder neue Erkenntnis

Hochsensibilität, Hysterie oder neue Erkenntnis

Das Problem daran sensible zu sein, ist die Erkenntnis, dass einem sogar die Vollpfosten leid tun

Der Begriff „Hochsensibilität“ begegnete mir zum ersten mal vor ungefähr 5 Jahren als meine Freundin erzählte, sie wäre fest davon überzeugt, hochsensibel zu sein. Nun muss man wissen, dass meine Freundin etwas speziell ist. Manche würden sie vielleicht sogar als hysterisch oder kompliziert bezeichnen, ich hingegen finde, sie hat auf jeden Fall einen sehr hohen Unterhaltungswert. Damals dachte ich so für mich: „Aha, mal wieder ne neue Methode, von Berliner Hipstern, ihre ganz normale Großstadtneurose, zu idealisieren.“ Bis ich mich sehr viel später, selbst, eingehender mit dem Thema beschäftigte und feststellte: „ Ach Du Schreck! Ich bin auch eine von diesen Luxus gestressten Großstadtneurotikerinnen.“

Da ich davon überzeugt bin, dass nicht nur ich mich so fühle, geht es heute um das Thema Hochsensibilität.

Warum bin ich anders als die meisten Menschen?

Schon lange quälten mich viele Fragen, deren Zusammenhang mir nicht bewusst war. Mir fehlte einfach noch der rote Faden.
Warum war ich so oft erschöpft? Warum brauchte ich mehr Zeiten des Rückzugs als andere? Und warum fühlte ich mich von so vielen Kleinigkeiten gestört?
Laute Geräusche waren unerträglich, Menschenmengen empfand ich als unangenehm und Gerüche konnte ich schon von weitem wahrnehmen. Die Berliner Öffis wurden regelmäßig zur Belastungsprobe.

Auch mein Schlaf war noch nie der Beste. Ich brauchte immer sehr lange um zur Ruhe zu kommen. Bewaffnet mit Ohropax und Schlafmaske, stellte ich mich jeden Abend der Herausforderung, neben meinem schnarchenden Mann einzuschlafen. Oft vergeblich. Ich verbrachte viele Nächte damit sinnlose Gedankenschleifen immer wieder zu reproduzieren.

Mit mir stimmt was nicht

Und so (ver)zweifelte ich, in typisch weiblicher Manier, regelmäßig an mir selbst. Mir war schon klar, dass alle Menschen irgendwie unterschiedlich sind, aber trotzdem nehmen wir doch alle das gleiche wahr? Oder etwa nicht? Haben wir nicht alle zwei Augen, die das sehen, was alle sehen? Eine Nase, die riecht was alle riechen und Ohren, die alle dasselbe hören? Jedenfalls, ich war mir sicher, musste es an mir liegen. Ich war eben ein kleiner Psycho.

Mein Helfersydrom

Oh Ja! Mit Psychokram beschäftigte ich mich schon immer gern. Natürlich am Liebsten mit meinem Eigenen, aber auch der meiner Mitmenschen machte mir viel Spaß. Egal ob Freund oder Familie, ich war für alle liebend gern die Sorgentante. Verständnisvoll und mitfühlend wälzte ich Problem für Problem mit einer Leidenschaft und Ausdauer, als wäre ich beim Sale-shopping, und nicht beim tragischen Trennungsdrama meiner Freundin.

Ich suchte nach Heilung. Für mich und alle Anderen. Damit meinte ich wirklich Buchstäblich ALLE. Mein erster Freund war der Sohn einer alkoholkranken Mutter und dafür prädestiniert, von mir gerettet zu werden. Die Ehe meiner Eltern bedurfte schon lange einer Generalüberholung und die meisten meiner Freunde, waren ziemlich durchgeknallt. Na, und dass der Planet gerettet werden musste, daran bestand kein Zweifel.
Da lag es Nahe, dass mich das Schicksal zu einem Heilberuf führte, der mir alle Möglichkeiten gab, um wirklich tief und nachhaltig mit Menschen, zu arbeiten. Ich wurde Heilpraktikerin und spezialisierte mich auf Frauen und Kinderheilkunde mit dem Schwerpunkt Homöopathie.

Befreiende Erkenntnis

Die Entdeckung selbst eine hsP (highly sensitive Person) zu sein, war für mich eine große Erleichterung. Ich fühlte mich erkannt und verstanden! Mir wurde bewusst, dass es noch mehr Menschen gibt, die sich und die Welt anders erleben. Ich war also gar nicht verkorkst!

Ich fand heraus, dass ich einfach mehr Reize aufnehme als viele andere Menschen.
Mein Gehirn empfängt viel mehr Daten und muss diese verarbeiten, was zu einer dauerhaften Überlastung des Systems führt. Das bezieht sich auf alle Reize. Die äußeren so wie sensorische, auditive und visuelle aber auch auf innere Prozesse. Meine eigenen und die Anderer. Stimmungen von Menschen wahrzunehmen, zu adaptieren und auszugleichen ist ein automatisierter Vorgang, den ich wahrscheinlich schon in meiner frühesten Kindheit gelernt habe. Das wiederum führt zu einer riesige Gedankenflut, die mich regelmäßig schier überwältigte.

Die Folge sind selbstkritische Gedanken aber auch die Tendenz, vieles auf mich zu beziehen, was nichts mit mir zu tun hat. Jetzt ergaben auch meine Konzentrationsschwierigkeiten meine nervöser Unruhe, unter der ich schon lange litt, Sinn. Wie soll ich mich fokussieren, wenn die eigene Wahrnehmung ständig stört. Ich war lange davon überzeugt, an ADHS zu leiden, unter anderem, wegen meiner Schusseligkeit. Jetzt war ich nicht mehr so sicher.

In der Literatur, zu diesem Thema, las ich zum ersten mal, dass all diese Verhaltensmuster miteinander in Verbindung stehen und für mich fügte sich ein Bild zusammen, dass davor nur aus einzelnen Puzzleteilen bestand. Endlich hatte ich den roten Faden gefunden.

Was sagt die Forschung dazu?

Ich fand heraus, dass der amerikanische Entwicklungspsychologe Jerome Kagan wissenschaftlich nachweisen konnte, dass etwa 20 Prozent der Probanden, die er kontinuierlich als Baby, Kleinkind, Teenager und junger Erwachsener, testete, besonders empfindlich auf Reize reagierte. Er nannte diese Gruppe „high reactors“.

Kagans langjährigen Studien und die Erkenntnisse dienten der amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron als Grundlage für weitere Forschungen auf diesem, bisher noch weitgehend unbekannten, Gebiet. Sie prägte zum ersten mal den Begriff der HsP, bzw. hochsensiblen Persönlichkeit in ihrem Buch: „The Highly Sensitive Person: How to Thrive When the World Overwhelms You.“ Der Titel beschreibt sehr treffend die Wahrnehmungsrealität von Hochsensiblen: „Wie soll man gedeihen, wenn die Welt einen überwältigt.“

Aron beschreibt Hochsensibilität als: „die sich zwischen Individuen unterscheidende Sensitivität gegenüber Erlebtem.“ Dabei bezieht sie sich nicht auf einen Unterschied der Sinnesorgane selbst, sondern auf die sensorische Weiterverarbeitung im Gehirn.
Wolfgang Klages fand schon 1978 heraus, dass die Reizschwelle des Thalamus, bei diesen Menschen viel niedriger ist, dadurch entsteht eine höhere Durchlässigkeit der Nervenfasern für eingehende Signale, so dass diese ungefiltert an die Hirnrinde weitergegeben werden. Es machte mir Mut, dass über Hochsensibilität nicht auf eine defizitäre Art gesprochen wurde, sondern vielmehr als eine ganz natürliche Veranlagung, die vererbt wird.

Trotz all dieser Erkenntnisse ist sich die Forschung noch lange nicht einig. Viele Merkmale überschneiden sich mit Krankheitsbildern wie affektiven Störungen (Depression, Bipolarität,) Burn-out, ADHS oder Autismus. Die Kritik lautet daher, es handle sich um ein nicht klar abgrenzbares Konstrukt und ein überflüssiges Konzept. Für mich stellt das alles keinen Widerspruch da. Wer sagt denn, das hsP nicht auf Grund ihrer Disposition leichter an psychischen Störungen erkranken?

Welches Potential birgt Hochsensibilität?

Meiner Meinung nach ist es äußerst wichtig den Blick auf das Potential zu werfen, dass sich dahinter verbirgt. Bisher liegt der Fokus bei psychischen Erkrankungen auf einer sog. Störung, also auf einer Abweichung der Norm. Bei der Idee der Hochsensibilität werden zum ersten mal auch besondere Fähigkeiten betont. „Die meisten Hochsensiblen sind von dem Wunsch beseelt, die Welt menschlicher zu gestalten, und sie sind bereit, das Ihrige dafür zu bewirken. Genau darin kann ihr Beitrag für die Gesellschaft liegen.“ (Rolf Selin)

Bei all den anderen vielen positiven Merkmalen wie:

  • hohes Ästhetisches Empfinden
  • Kreativität
  • Musikalität
  • starkes Gerechtigkeitsempfinden
  • hohe Empathiefähigkeit
  • offen für neue Erfahrungen
  • hohe soziale Kompetenz

habe ich die Erfahrung gemacht, dass genau in diesem Wunsch unsere stärkste Gemeinsamkeit liegt.

Mittlerweile kommen zahlreiche Frauen und Kinder in meine Praxis und viele davon würde ich als hochsensibel bezeichnen. Neben vielen unterschiedlichen Leiden, die bei HSP aufgrund der erhöhten Stressanfälligkeit häufiger auftreten können, haben alle Betroffenen das tiefe Bedürfnis, diese Welt ein Stück weit besser zu machen und das Ihre dazu beizutragen. Natürlich wünschen sich nicht nur hochsensible etwas positives in der Welt zu bewirken, sondern so viele andere Menschen auch. Ich denke wir wurden alle mit unterschiedlichen Ressourcen ausgestattet, die uns dazu befähigen, der Welt das zu geben, was wir am Besten können.

Ich möchte mit diesem Artikel aufklären und Menschen, die sich angesprochen fühlen meine Hilfe anbieten. Als Heilpraktikerin, Therapeutin und Mensch, denn ich hab selbst erlebt, wie gut es tut mit bestimmten Erfahrungen nicht allein zu sein.

So long und bleibt gefühlig - auch wenn euch nicht jeder Vollpfosten leidtun muss

Eure Anja

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